SPD

„Die Zukunft von Nuklearwaffen in einer Welt der Unordnung“

Meine Rede zur Einführung des Berliner Sicherheitsdialogs

17.10.2018

Die Zukunft von Nuklearwaffen in einer Welt der Unordnung – wahrlich ein Thema, das zu Ernsthaftigkeit verpflichtet. Von Unordnung und Atomwaffen in einem Atemzug zu sprechen, dürfte bei vielen von uns bedrückende Gedanken heraufbeschwören.

Es zeichnet die Gesellschaft für Sicherheitspolitik aus, solchen Themen nicht aus dem Weg zu gehen. Sie setzen auf überparteilichen und faktenbasierten Austausch – in einer Zeit von fake news und argumentativer Beliebigkeit eine wohltuende Selbstverpflichtung. Deshalb danke ich Ihnen für die Einladung zum heutigen Berliner Sicherheitsdialog.

Bundesaußenminister Heiko Maas hat in seiner vielbeachteten Tiergartenrede zur Zukunft der nuklearen Ordnung gezeigt, wohin die Kompassnadel deutscher Außenpolitik weist. Hieran möchte ich anknüpfen und auch einige Punkte seiner Rede weiterführen.

Eines aber will ich vorausschicken: Trotz der gewaltigen Umwäl­zungen, denen wir uns manchmal macht­los ausgesetzt glauben – die Zukunft der Nuklear­waffen ergibt sich nicht aus einer Zwangs­läufigkeit heraus.  Die Zukunft der nuklearen Ordnung, davon bin ich ebenso überzeugt wie Heiko Maas, ergibt sich aus unserer Kraft zur Gestaltung. Aus der Kraft enga­gierter Multilatera­listen. Gerade zur Frage der Zukunft von Nuklearwaffen muss das ein Leit­gedanke deutscher Außenpolitik sein.

Mein Damen und Herren,

2010 bekannten sich die fünf im Nichtververbreitungsvertrag anerkannten Nuklearwaffen­staaten in einem gemeinsamen Aktionsplan aller Vertrags­parteien dazu, die Rolle und die Bedeutung ihrer Atomwaffen zu reduzieren.

2010 – das war ein Jahr nachdem Präsident Obama mit Global Zero, mit seiner Vision einer atomwaffenfreien Welt für Aufbruch­stimmung gesorgt hat. Es war die Zeit des russisch-amerika­ni­schen Reset, als beide Seiten ankündigten, mit New START die Anzahl der einsatzbereiten nuklearen Gefechts­köpfe und Träger­systeme weiter erheblich zu reduzieren. Das war eine Zeit der mutigen Schritte, die die Hoffnungen – gerade hier in Deutschland – auf weiteren Fortschritt in der nuklearen Abrüstung beflügelten.

Aber die nukleare Ordnung hat vielfältige Erschütterungen hinnehmen müssen. Russland, unser großer Nachbar im Osten, hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim nicht nur grund­legende Prinzipien der internationalen Friedensordnung verletzt. Es hat mit dem Budapester Memorandum auch eine glasklare Sicherheits­garantie entwertet, die Nuklearwaffenstaaten wie die Ukraine 1994 im Austausch für den Verzicht auf eigene Nuklearwaffen gegeben haben. Wir können heute wohl noch nicht absehen, ob Staaten, die in der Zukunft mit Atomwaffen liebäugeln, ihre unheilsame Lehre aus diesem Wortbruch ziehen werden.

Vertrauen in den Wert von Vereinbarungen – das ist Grundlage für jede politische Lösung von Konflikten. Die Nuklearvereinbarung mit Iran ist nicht nur das Ergebnis jahrelanger harter diplomatischer Arbeit. Sie schafft auch – ganz ohne Frage – mehr Sicherheit in der Region, mehr Sicherheit in Europa. Sie ist, bei allen Unvollkommen­heiten, ein Erfolg engagierter Multilateralisten, der das System der nuklearen Nichtverbreitung stärkt. Das sehen fast alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft so.

Deshalb ist Präsident Trumps Aufkündigung der Nuklear­vereinbarung mit Iran nicht nur ein Rückschlag für all diejenigen, die um eine Lösung in einer der zähesten Proliferationskrisen bemüht sind. Sie schwächt auch das Vertrauen in die Zusagen der Mächtigeren und bestätigt all diejenigen Staaten, die der Idee von kooperativer Sicherheit ohnehin mit Misstrauen – oder schlimmer noch: mit Verachtung – gegen­überstehen. Nirgendwo kann der Verlust an Glaub­würdigkeit wohl größeren Flurschaden anrichten als im Bereich nuklearer Vereinbarungen.

Und genau deshalb ist es so wichtig, das Abkommen zu bewahren. Hierzu brauchen wir konkrete Lösungen, etwa um Zahlungswege offenzuhalten und den Handel mit dem Iran weiter zu ermöglichen. Daran arbeiten wir in enger Abstimmung mit Frankreich und Großbritannien – eine Bewährungsprobe für Europa ebenso wie für die inter­nationale Nichtverbreitungs­diplomatie.

Auch die Entwicklung Nordkoreas, die uns weiter in Atem hält, führt Chancen und Krisen des Multi­late­ralis­mus deutlich vor Augen. Als Kim Jong Un 2011 seinen Vater beerbte, haben fast alle Experten Nordkorea weit davon entfernt gesehen, Nuklearwaffen und Träger­technik zu beherrschen. Aber kaum ein Experte hat die Ent­schlos­sen­­­­heit vorhergesehen, mit der Kim sein Atom- und Raketen­programm vorantreiben sollte: Vier, am Ende erfolgreiche Atom­tests und nicht weniger als 120 Raketentests – zuletzt mit interkontinentaler Reichweite – folgten. Sie wurden  begleitet, aber nie unterbunden, von einem sich stetig verstär­ken­den, aber bis heute immer wieder unter­laufenen Sanktions­regime.

Die Volatilität dieser Krise muss uns alarmieren. Als die Rhetorik zwischen dem Vorsitzenden Kim und Präsident Trump vor einem Jahr ihren Höhepunkt erreichten, schien ein militärisches Szenario nicht ausgeschlossen. Heute verhandelt Nordkorea mit den USA und zeigt sich entschlossen, auch mit Südkorea ein neues Kapitel in den Beziehungen beider Länder aufzuschlagen. Dabei scheint es der nord­korea­nische Machthaber zu sein, der den Takt vorgibt.

Ich möchte hier ganz deutlich sagen:  Die inner­koreanische Annäherung, die wir in den vergangenen Monaten beobachten, ist eine hoch­will­kommene und ermutigende Entwicklung. Sie wird helfen, Vertrauen zwischen beiden Seiten auszubauen, und sie könnte die Grundlage für ein neues Verhältnis zwischen den beiden Koreas schaffen. Wem, wenn nicht uns Deutschen, gin­gen die Hoffnungen einer geteilten Nation nahe?

Es muss aber klar sein: Ohne vollständige, verifizierbare und unumkehrbare Aufgabe des nordkoreanischen Atom­waffenprogrammes wird es keinen nachhaltigen Frieden und keine Stabilität in der Region geben. Deshalb kann die Kernfrage der Denuklearisierung Nordkoreas auch nicht vertagt werden. Substantielle – nicht bloß symbolische – Schritte müssen folgen, um Vertrauen in die Denukle­ari­sie­rungsbereitschaft Nordkoreas zu fassen.

Der US-nordkoreanische Dialog bietet eine Chance dazu – wenn der Druck auf Nordkorea aufrechterhalten wird. Die beispielhafte Geschlossenheit der Staatengemein­schaft zu Jahresbeginn – sie zu erhalten wäre eine zentrale Aufgabe engagierter Multi­late­ra­listen, um Nordkorea tatsächlich auf den Pfad der Denuklearisierung zu brin­gen. Deutschland wird sich hierfür stark machen und steht bereit, gemeinsam mit anderen Staaten und der Internationalen Atomenergiebehörde seine Expertise und Erfahrung in jeden tragfähigen Prozess einzubringen, der auf Aufgabe des nordkoreanischen Nuklearprogrammes abzielt.

Nordkorea als Atommacht zu akzeptieren – der ersten seit 40 Jahren und der einzigen, die dieses Ziel unter Verletzung des Nichtverbreitungsvertrages erreicht hätte – würde dem Fundament der nuklearen Ordnung einen schweren Schlag versetzen. Sie würde einen Staat belohnen, der über Jahre Völkerrecht gebrochen und sich systematisch über die Beschlüsse des Sicher­heitsrates hinwegsetzt hat. Sie würde dauerhaft größte Proliferations­risiken nach sich ziehen, die von einem politisch isolierten, devisenschwachen, aber nuklear gerüsteten Land aus­gingen. Und sie würde die Auf­rüs­tungs­dynamiken im asiatisch-pazifischen Raum unweigerlich weiter befördern. Bereits heute sehen wir, wie der im Licht der nord­koreanischen Bedrohung erfolgte Ausbau amerikanischer Raketen­­abwehr­systeme China ein weiteres Argument gibt, seine Zweit­schlags­­fähigkeit auszubauen – durch Moder­nisie­rung der U-Bootstreitkräfte ebenso wie durch Ent­wicklung nuklearer Mehrfach-Gefechts­köpfe.

Meine Damen und Herren,

Der Aufstieg Chinas hat die Gleichung strate­gischer Stabilität ohnehin komplizierter werden lassen. Dabei sind es weniger Chinas Atomwaffen, die Unbe­hagen hervor­rufen. Mit Verweis auf sein kategorisches Nein zu jeder Form des atoma­ren Ersteinsatzes, mit einer durch separate Lagerung von Spreng­köpfen und Trägern abgesenkten Einsatzbereitschaft und einem stabilen nuklearen Arsenal nimmt China für sich in Anspruch, ein besonders ver­antwortungsvoller Nuklear­waffenstaat zu sein. Sorge bereitet aber vor allem der Ausbau neuer Technologien und strate­gischer Fähigkeiten. Das Verhältnis der großen Mächte untereinander zeichnet sich zunehmend durch Konkurrenz aus – Great Power Competition gilt den USA als zentrales Kenn­zeichen der Welt­ord­nung und wird entsprechend in der Nationalen Verteidi­gungs­­strategie und der Nuklear­strategie widergespiegelt.

Gemeinsame Spielregeln für diesen globalen Wettstreit zu finden, steht derzeit nicht bei allen oben auf der Agenda. Genau dies muss aber die Stoßrichtung einer Außenpolitik sein, die auf Verlässlichkeit, Berechen­barkeit und den fried­lichen Ausgleich von Interessen auf Grundlage gemein­samer Regeln und Prinzipien abzielt. Und hier gibt es viel zu tun.

Die technologischen Entwicklungen und ihre Aus­wirkungen auf die Mechanik nuklearer Abschreckung werden engagierte Multilateralisten in den kommenden Jahren vor große Aufgaben stellen. Denn die nukleare und die konventionelle Domäne zeigen immer häufiger techno­logische und doktrinäre Berührungspunkte. Durch diese Verschrän­kungen können Szenarien und Risiken entstehen, die wir früh erkennen und einhegen müssen.

So hinterfragen die Entwicklung und der Einsatz qualitativ neuer Fähigkeiten die Gewissheiten der nuklearen Abschreckung. Der Gedanke der nuklearen Abschrec­kung scheint monströs und fragwürdig, und dennoch waren es bisher diese Gewissheiten, die für Stabilität und militärische Zurückhaltung gesorgt haben: im Kalten Krieg zwischen den Supermächten ebenso wie zwischen Indien und Pakistan, die vor ihrem Aufstieg zur Atommacht drei verlustreiche konven­tionelle Kriege geführt hatten.

Qualitativ neue Systeme schaffen hier Unsicher­heiten.

Meine Damen und Herren, diese Unsicherheitenmüssen in den Blick genommen werden. Dabei sollten wir nicht naiv sein: Nur die Nuklear­waffen­staaten können – im Dialog unter­einander – praktische Lösungen für die Risiken finden, die sich aus der Verschränkung von nuklearen und nicht-nuklearen Technologien und Einsatzdoktrinen erge­ben. Aber es ist die Aufgabe aller engagierten Multi­latera­lis­ten, hier Problem­bewusstsein und Regelungs­druck zu erzeugen. Denn Risiken im nuklearen Bereich sind wahrhaftig Mensch­heitsfragen.

Deutschland hat gerade in den letzten Jahren bewiesen, dass es im Verbund mit Partnern in der Lage ist, Zukunftsfragen der Abrüstung und Rüstungs­kontrolle in multilaterale Bahnen zu lenken. Der Anstoß zur Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in der OSZE gehört ebenso dazu wie die Arbeiten zur Ächtung vollautonomer Waffen­systeme im Rahmen der Vereinten Nationen. Wir müssen Zukunfts­fragen auch im nuklearen Bereich aktiv angehen – gerade in Zeiten, in denen die Zeichen nicht auf Abrüstung stehen. Und wir können hierbei nur Erfolg haben, wenn wir auf Dialog mit allen Seiten setzen – Nuklearwaffenstaaten und Nuklearwaffengegnern.

Meine Damen und Herren,

natürlich ist es ganz besonders die Konfron­tation mit Russland und ihre Weiterungen im nuklearen Bereich, die uns in Europa Sorgen bereiten muss. Nicht nur hat Russland in der Ukraine gezeigt, dass es zur Durchsetzung der eigenen Interessen bereit ist, Völkerrecht zu brechen und militärische Mittel einzusetzen. Russland macht außerdem keinen Hehl daraus, dass es aufrüstet – nuklear, konventionell und zunehmend auch im Cyberbereich.

Im März hat Präsident Putin in seiner Rede an die Nation die Entwicklung neuer strategischer Systeme angekündigt,  Systeme, die zunächst wie Science Fiction wirken, von deren Einsatzbereitschaft wir in den nächsten Jahren aber ausgehen müssen. Diese neuen Systeme unterlaufen zwar nicht die geltenden Vertrags­regime im nuklearen Bereich. Ihre Geschwindigkeit und die Unberechenbarkeit ihrer Flugbahnen sind aber darauf aus­gerichtet, die Raketen­abwehr­ der NATO zu unterlaufen, und stellen Frühwarn­systeme und Entscheidungsprozesse vor erhebliche Heraus-forderungen.

Parallel hierzu baut Russland sein nichtstrategisches Nukleararsenal aus – auch durch die Stationierung von nuklearfähigen, mobilen und hochpräzisen SS26-Raketen in Kaliningrad, direkt an der Grenze zur Europäischen Union. Es setzt nuklearfähige seegestützte Raketen, die es auf Korvetten im Schwarzen Meer stationiert hat, im Syrien-Krieg ein. Russland beübt zudem mit zunehmend großen Truppen­teilen Szenarien mit sowohl konventionellen als auch nuklearen Komponenten. All diese Entwicklungen be­rühren auch unsere Sicherheit unmittelbar.

Die USA haben Anfang des Jahres ihrerseits ihre Nuklear­strategie überarbeitet. Sie nimmt in deutlichen Worten eine Neubewertung des sicherheitspolitischen Umfelds vor und misst – angesichts der dynamischen Fähigkeiten­entwick­lung in Russland und China – der nuklearen Abschreckung wieder höhere Bedeutung bei. Erklärtes Ziel dabei bleibt, Konflikte zu vermeiden und vor allem jeglichen Einsatz von Kernwaffen zu verhindern.

Ich halte es für wichtig und auch für ein Zeichen funktionie­render Demokratie, dass die Neuausrichtung der Nuklear­strategie in den USA nicht kritiklos geblieben ist. Jede Änderung der Strategie wurde in Expertenkreisen, in Sitzungen der Fachausschüsse beider Kammern diskutiert, die Strategie der Regierung Trump mit der visionären Zielsetzung der Obama-Regierung verglichen. Unverkenn­bar ist: Der politischen Rolle von Nuklearwaffen und dem Konzept der nuklearen Abschreckung kommt wieder stärkere Bedeutung zu.

Doch es wäre falsch, hier einen Kontinuitätsbruch zu sehen. Selbst 2010 – zur Zeit des Reset – hat die NATO in ihrem Strategischen Konzept bekräftigt, dass sie eine nukleare Allianz bleiben werde, solange Nuklear­waffen existierten, und dass Abschreckung Kernbestandteil der kollektiven Verteidigung der Allianz und der unteilbaren Sicherheit ihrer Mitglieder bleibe.

Dabei hat das Nukleardispositiv der NATO eine zu allererst politische Rolle. Seine Kernaufgabe ist, Frieden zu erhalten, Zwang abzuwenden und Aggression abzuschrecken.

Für die NATO ist der Einsatz von Nuklearwaffen ein extrem fernliegendes Szenario, seine Vermeidung Kerngedanke nuklearer Abschreckung. Und angesichts des politischen Rechtsrucks in Europa und den USA müssen wir dafür sorgen, dass das auch so bleibt.

Sicher gab es Zeiten, da wähnten wir uns bereits jenseits dieser Logik. Nach dem Kalten Krieg haben Russland und die USA tiefe Einschnitte in ihre Nuklear­­­dispositive vorgenommen und große Bestände vernichtet. Deutschland hat die Entsorgung von russischen Atom-U-Booten und nuklearen Abfällen mit erheblichen Mitteln finanziell unterstützt.

Aber das sicherheitspolitische Umfeld – das ist die Realität – hat sich seit der Jahrtausendwende deutlich ver­schlech­tert. Russlands Verhalten im Osten Europas ruft bei unseren engsten Verbündeten und Nachbarn große Sorgen hervor. Diese zu ignorieren oder als Hysterie abzutun, wäre fahrlässig und falsch.

Die Antwort kann nur eine  Politik sein, die klare Erwartungen an Russland formuliert, es zu einer Änderung seines Verhaltens auffordert, aber auch Wege aufzeigt, mit Russland zu kooperieren. Dabei müssen wir immer die Anliegen aller Europäer im Blick behalten: die der baltischen Staaten und Polens ebenso wie die der Staaten im Westen.

Das angespannte sicherheitspolitische Umfeld in Europa hat Heiko Maas auch dazu veranlasst, mit Russland den hochrangigen sicherheitspolitischen Dialog auf Ebene der Staatssekretäre wieder aufzunehmen. Hier wollen wir in den kommenden Monaten vorankommen. Transparenz, Rüstungskontrollverpflichtungen und Risikoreduzierung – das sind Themen, bei denen wir kritische Fragen an Russland haben, aber auch verloren gegangenes Vertrauen zurück­gewinnen können. In jedem Fall gilt: Der Aus­weg aus dem bedrohlichen Zusammenspiel von Aufrüstung und Miss­trauen und der Weg zum Ausgleich legitimer Sicher­heits­interessen – er führt nur über einen Dialog mit Russland, einen Dialog, den wir im konventionellen Bereich im Übrigen bereits 2016 unter deutschem Vorsitz in der OSZE angestoßen haben.

Der Erhalt der amerikanisch-russischen Vereinbarungen im strategischen Bereich, dem INF-Vertrag und New START, ist hierbei von besonderer Bedeutung – für die USA und Russland, aber gerade auch uns Europäer. Denn beide Verträge leisten für die Sicher­heit Europas einen unverzichtbaren Beitrag. Der INF-Vertrag hat boden­gestützte Mittel­strecken­raketen und -marschflugkörper, die uns unmittelbar bedrohten, ersatzlos eliminiert. New START begrenzt die Zahl einsatzbereiter strategischer Nuklear­waffen und schafft durch sein auch in der Krise funk­tionierendes Verifikations­system ein hohes Maß an Transparenz.  Das empfindliche Gleich­gewicht strategischer Stabilität zwischen den USA und Russland – es schützt und stabilisiert auch Europa im geographischen Zwischenraum.

Dieses Rahmenwerk, das sich aus dem Interesse beider Seiten gespeist hat, ist heute in Gefahr.  Schwerwiegende Vorwürfe der Verletzung des INF durch Russland bleiben bis heute unwiderlegt. Deshalb müssen auch wir Europäer im ureigenen europäischen Sicherheits­interesse unsere Stimme für den Erhalt und für die Einhaltung dieses Vertrags erheben. Denn nach dem INF könnte auch New START wie ein Dominostein fallen. Wir aber brauchen beide Verträge, um das empfindliche strategische Gleichgewicht zu wahren und die Erfolge in der nuklearen Abrüstung festzuschreiben. Nur bei voller Implementierung kann Rüstungskontrolle zur Sicherheit beitragen. Das Risiko eines Rückfalls in Zeiten der Regellosigkeit und des nuklearen Wettrüstens können wir uns nicht erlauben. Dieses Risiko ist nicht trivial – es macht den Menschen Angst. Man erinnere sich nur an die Massenproteste gegen den NATO-Doppelbeschluss, einem „Gesprächsangebot“ der NATO an die Sowjetunion, das mit einer Aufrüstungsdrohung kombiniert wurde.

Ich hoffe sehr, dass mögliche weitere Gespräche, die zwischen Präsident Trump und Präsident Putin in Helsinki vereinbart wurden, richtige Fortschritte bringen werden. Angesichts der Verwer­fungen im russisch-amerikanischen Verhältnis wird das nicht einfach sein. Aber auch in den schwierigen Zeiten des Kalten Krieges ist es gelungen, Hürden zu überwinden und visionäre Schritte in Richtung Abrüstung und Rüstungskontrolle zu gehen. Und auch daran gilt es Washington und Moskau heute zu erinnern.

Meine Damen und Herren,

mit der ihm eigenen Lakonie hat der Pazifist Albert Einstein einst auf den Punkt gebracht, was es heißt, im nuklearen Zeitalter zu leben. „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird“, so der Nobel­preis­träger,  „aber im vierten werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen“.

Das ist kein Pathos, was hier anklingt, kein friedens­bewegter Alarmismus, sondern die nüchterne Feststellung einer im 20. Jahrhundert geborenen Möglichkeit: die Auslöschung von Aber­millionen Menschen, von hunderten Jahren Zivilisationsgeschichte in kürzester Zeit.

Es ist auch kein Widerspruch, die stabilisierende Wirkung der nuklearen Abschreckung anzuerkennen, gleichzeitig aber klar und deutlich zu sagen: Wir Menschen dürfen nicht akzeptie­ren, auf Dauer mit dieser apokalyptischen Möglich­keit zu leben. Global Zero, das Ziel einer nuklear­waffen­freien Welt, ist aus meiner Sicht nicht nur ein mora­lischer, sondern auch ein ganz realpolitischer Imperativ. Und die Bundesregierung hält ohne Wenn und Aber, ohne jede Relativierung an diesem Ziel fest.

Wir teilen dieses Ziel mit vielen, insbesondere auch den Unterstützern, Unterzeichner- oder bereits Vertrags­staaten des Kernwaffenverbotsvertrages. Oft werden wir gefragt: Warum schließt sich die Bundesregierung dann diesem Vertrag nicht an? Ein Vertrag, der Kernwaffen ächtet und ihren Einsatz und Besitz, ihre Stationierung, Lagerung und Weitergabe völkerrechtlich verbietet? 

Die Antwort lautet: Weil wir fürchten, dass dieser Vertrag uns dem Ziel Global Zero leider nicht näherbringt. Und weil er, so unsere Befürchtung, praktische Schritte in Richtung der nuklearen Abrüstung nicht fördern, sondern weiter er­schweren kann.

Der Kernwaffenverbotsvertrag wird, das bestreiten auch seine Anhänger nicht, keinen einzigen nuklearen Spreng­kopf aus der Welt räumen, solange keiner der Nuklear­waffenstaaten auch nur mit dem Gedanken spielt, ihm beizutreten. Und damit wird er auch keines der nuklearen Risiken, die ich versucht habe zu skizzieren, abmildern helfen. Ich will aber ausdrücklich anerkennen, dass es ein Verdienst von ICAN ist, ein so wichtiges Thema wieder auf die Agenda gesetzt zu haben.

Das ist der Weg, das ist der Anspruch der Bundesregierung, und wir werden unsere Verantwortung als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nutzen, diese nuklearen Herausforderungen anzugehen und die Möglich­keiten schrittweiser Fortschritte in Richtung der nuklearen Abrüstung auszuschöpfen. Es liegt auf der Hand, dass dies nur im Dialog, nicht in Konfrontation mit den Ständigen Mitgliedern des Sicher­heitsrats erfolg­versprechend sein kann.

So sind wir trotz unterschiedlicher Ansätze im Ziel geeint. Zusammen mit unseren Partnern der Nonprolifera­tion and Disarmament Initiative – einer Gruppe aus Ländern aller Kontinente, darunter Verbotsvertragsbefürworter und -gegner – machen wir uns gerade in diesen Wochen in den Vereinten Nationen und vor allem gegenüber den fünf Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates dafür stark, den  Nichtverbreitungs­vertrag zum 50. Jahrestag seines Inkraft­tretens im Jahre 2020 zu stärken.[1]

Denn der Atomwaffensperrvertrag, wie er in Deutschland gern genannt wird, ist und bleibt das Fundament der globalen nuklearen Ordnung. Ohne ihn – das steht außer Frage – wären heute weit mehr Staaten im Besitz von Atomwaffen. Ohne ihn hätten wir keinen so hohen, universell anerkannten Sicherungsstandard gegen die allfälligen Proliferations­­risiken. Keine internationale Atom­energie­­behörde, die – völlig zu Recht – für ihre Arbeit 2005 mit dem Friedens­nobel­preis ausgezeichnet wurde. Wir hätten wohl auch keinen so klaren Trend in der zivilen Reaktor­technik, die heute ganz weitgehend ohne hoch­angereichertes Uran auskommt. Und wir dürfen bei allen aktuellen Heraus­forde­rungen nicht vergessen: Zur Erfolgs­geschichte der letzten 50 Jahre gehört auch die Dezimierung der nuklearen Arsenale im Vergleich zum Niveau des Kalten Krieges.

Diese Erfolge, meine Damen und Herren, illustrieren, wie wichtig es ist, den Nicht­verbreitungs­vertrag zu erhalten, um auf der Grundlage seiner universellen Geltung weitere Fort­schritte in Richtung nuklearer Abrüstung zu erzielen. Dies wird die Bewährungs­­­probe für engagierte Multi­latera­listen in den kommenden zwei Jahren sein. Und es bedeutet harte diplomatische Arbeit, denn nicht alle Vertragsstaaten messen der nuklearen Abrüstung denselben hohen Stellen­wert bei. Aber es gibt eine ganze Reihe von Punkten, an denen wir ansetzen können.

Zum einen: Transparenz und Verifikation. Eine weit­gehen­de Offenlegung der nuklearen Arsenale aller Nuklearwaffen­staaten und eine Antwort auf die praktische Frage, wie Nichtnuklearwaffenstaaten die De­montage eines nuklearen Sprengkopfes verifizieren können, ohne selber Wissen über den Bau einer Atombombe zu erlangen – das sind wichtige Grundlagen für konkrete und verifizierbare Abrüstungs­schritte in der Zukunft. Diese Grundlagen können wir bereits heute legen. Wir werden deshalb mit Frankreich eine gemeinsame Übung ausrichten, die helfen soll, ein Abrüstungs­verifikationsverfahren zu entwickeln, das diesen komplexen Anforderungen genügt.

Zweitens: Sicherheitsgarantien. Ich bin davon überzeugt, dass wir stärker daran arbeiten müssen, die Rolle von Nuklearwaffen in Strategien, Doktrinen und politischen Äußerungen zu reduzieren. Im gegenwärtigen Sicherheits­umfeld wäre es bereits ein enormer Fortschritt, die Sicher­heits­garantien zu erneuern, die Nuklearwaffenstaaten allen anderen Staaten in stabileren Zeiten gemacht haben. 

Mittelfristig müssen wir weitergehen. Das erfordert politischen Willen. Das erfordert den vollen Einsatz engagierter Multilateralisten. Und anfangen können wir mit Veranstaltungen wie dieser und einem kritischen, offenen Austausch.

In diesem Sinne freue ich mich nun, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Stellen Sie mir gerne Fragen.