SPD

Namensbeitrag in der Frankfurter Rundschau

07.01.2015

Erschienen am 6. Januar 2015 in der Afghanistan-Serie des FR-Feuilletons:

Wüstenhitze und schneebedeckte Berge, große Armut und Bodenschätze, strenge Religiosität und Frauen im Fernsehen: Afghanistan ist ein Land der Gegensätze, das sich nicht in schwarz oder weiß zeichnen lässt. Das gilt ebenso für den aktuellen Zustand Afghanistans. Auf der einen Seite stehen große Erfolge. Nach den Präsidentschaftswahlen 2014 – für deren erfolgreiche Absicherung die rund 350.000 afghanischen Sicherheitskräfte alleine zuständig waren – hat es den ersten demokratischen Machtwechsel überhaupt gegeben. Der ehemalige Präsident ist im Land geblieben und erfreut sich bester Gesundheit. Die afghanische Bevölkerung hat heute ein besseres Leben als während der Talibanherrschaft. Doch auf der anderen Seite steht die nach wie vor kritische Sicherheitslage. Zahllose Anschläge und bewaffnete Auseinandersetzungen lassen das Land nicht zur Ruhe kommen.

Es ist an der Zeit Bilanz zu ziehen, denn zum 31. Dezember 2014 endete ISAF, der Kampfeinsatz internationaler Truppen in Afghanistan. Doch stehen zurzeit andere Regionen und Konflikte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Vormarsch des „Islamischen Staates“ und die damit verbundene Flüchtlingskatastrophe, die Krise zwischen Israel und Palästinensern, die Auseinandersetzungen in der Ukraine sowie Ebola in Westafrika dominierten die außenpolitische Agenda des Jahres 2014. Afghanistan erscheint eher wie die verblassende Erinnerung an einen ehemaligen Konflikt, der nun endlich zu Ende geht. Abgehakt. Wer im vergangenen Jahr Abitur gemacht hat, verfügt vermutlich über keine eigenen Erinnerungen mehr an die Anschläge auf das World Trade Center.

Dennoch sollten wir nicht den Fehler machen, die Bedeutung Afghanistans und der gesamten Region für den Frieden in der Welt zu unterschätzen. Der radikale Islamismus bleibt eine weltweite Bedrohung. Im Irak und in Syrien sind die Kämpfer der Terrorgruppe „ISIS“ noch immer nicht geschlagen. Unterdessen übernimmt ISIS weltweit immer mehr Al Kaida-Zellen und rekrutiert bereits offensiv in Pakistan. Die Interdependenzen sind offensichtlich. Wer Afghanistan aus dem Blick verliert, spielt den islamistischen Terroristen in die Hände.

Unsere Ziele in Afghanistan waren hoch gesteckt, vermutlich waren sie zu ehrgeizig. Das ISAF-Mandat war – auch und besonders in meiner Partei – von Anfang an umstritten. Im Rückblick muss der Einsatz sicherlich kritisch bewertet werden. Richtig ist: Die Sicherheitslage ist in Afghanistan trotz des Einsatzes von ISAF weiterhin prekär. Die innerstaatlichen Konflikte, insbesondere mit den Taliban, sind nicht gelöst. Afghanistan ist weiterhin eines der ärmsten Länder der Welt, die Korruption grassiert, der Drogenanbau ist nicht eingedämmt und Gewalt gegen Frauen weiterhin weit verbreitet. Dies alles ist Teil der afghanischen Realität.

Es ist aber auch Teil der Realität, dass die von der internationalen Gemeinschaft unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Entwicklungshelfer, Soldaten, Polizisten und Diplomaten erreichten Fortschritte Afghanistan positiv verändert haben: Die afghanische Gesellschaft ist heute eine andere als noch vor 13 Jahren. Sie ist freier, pluraler und gebildeter. Die Lebenserwartung ist gestiegen, viele Menschen haben nun Zugang zu medizinischer Grundversorgung, ein Großteil der schulpflichtigen Bevölkerung besucht eine Schule (darunter ungefähr 40 Prozent Mädchen), es wurde zudem ein Berufsbildungssystem mit deutscher Hilfe aufgebaut. Auch verfügt Afghanistan heute über eine bemerkenswert entwickelte Zivilgesellschaft und über eine vielfältige Medienlandschaft, die ihresgleichen in der Region sucht.

ISAF war eine außergewöhnliche Mission. Die Dauer, die Truppenstärke, die Höhe der Kosten, die Anzahl der beteiligten Länder: All dies war in seiner jeweiligen Dimension einzigartig. Und vermutlich liegen darin – neben der Tatsache, dass wir in vielerlei Hinsicht unvorbereitet in diesen Einsatz gegangen sind – auch die Ursachen für viele Probleme. Das Konzept der „lead nations“, bei dem jeweils ein Staat die Verantwortung für eine bestimmte Aufgabe übernommen hat, war der Versuch, angesichts der Vielzahl an beteiligten Nationen die Arbeit zu koordinieren. So übernahm Deutschland die Federführung bei der Reform der afghanischen Polizei. Eine Bewertung des Gesamtkonzeptes fällt jedoch aufgrund der sehr unterschiedlichen Ausübung der „leads“ schwer.

Eine frühzeitigere Beendigung des mehr Gegeneinander als Miteinander der Missionen ISAF und OEF (das Mandat unter dem vor allem die USA gegen Aufständische vorgingen) wäre mit Sicherheit für die Akzeptanz des ISAF-Einsatzes sowohl innerhalb Afghanistans als auch in unserem eigenen Land von Vorteil gewesen. Die SPD hat damals dafür gesorgt, die deutsche Beteiligung an OEF zu beenden. In der Retrospektive wird zudem deutlich, dass es ein Fehler war, nicht von Anfang an einen politischen Ausgleich mit den Taliban gesucht zu haben. Ebenso lässt sich aus heutiger Sicht sagen, dass es hilfreich gewesen wäre, die regionalen Mächte, insbesondere Pakistan und den Iran frühzeitiger (bzw. überhaupt) einzubinden. Auch das Verhältnis von Militärausgaben und ziviler Hilfe muss in der Rückschau wohl als unausgewogen angesehen werden.

Die ISAF-Mission war nur ein – wenn auch bedeutender – Bestandteil des breit angelegten internationalen Engagements in Afghanistan. Deutschland wird sich in den kommenden Jahren weiterhin für eine soziale, wirtschaftliche und politische Stabilisierung einsetzen. Dies ist auch eine direkte Lehre aus Fehlern, die mit dem Abzug der Kampftruppen aus dem Irak gemacht wurden. Es gilt, einen „zweiten Irak“ zu verhindern. Der übereilte Rückzug der USA hat es ISIS erleichtert, die Kontrolle über ganze Landstriche zu übernehmen. Ein solches Szenario darf sich in Afghanistan nicht wiederholen. Positiv ist zu erwähnen, dass die Regierung besonnen vorgeht und sich um Einbeziehung aller Volksgruppen bemüht. Die neue afghanische Regierung hat am Tag nach der Amtsübernahme die NATO gebeten, mit der Ausbildungsmission „Resolute Support“ weiterhin unterstützend tätig zu sein. Zusätzlich zu unserem zivilen Engagement von jährlich bis zu 430 Millionen Euro werden wir uns in diesem Jahr mit maximal 850 Soldatinnen und Soldaten an der Mission zur Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte in Afghanistan beteiligen.

Wir sollten Afghanistan nicht aufgeben. Allzu häufig wird Afghanistan mit Terror, Extremismus und Rückständigkeit gleichgesetzt. Ein hoffnungsloser Fall. Doch in Afghanistan leben rund 30 Millionen Menschen. Ich bin 2007 und 2008 mehrere Wochen durch Afghanistan gereist, um mir einen eigenen Eindruck von der Lage zu verschaffen. Ich habe dabei viel Kritik gehört, aber auch viele mutige Menschen kennengelernt, die an die Zukunft ihres Landes glauben.

Nach 13 Jahren wurde der Kampfeinsatz gegen die Aufständischen am Hindukusch beendet, für den 55 deutsche Soldaten ihr Leben gelassen haben. Wir werden sie nicht vergessen. Die Afghanen haben nun selbst die Verantwortung übernommen. Vor allem die hohe Beteiligung an den Wahlen, aber auch die Erfolge der Sicherheitskräfte bei deren Absicherung, sprechen für den Willen der afghanischen Bevölkerung, das Erreichte nicht zu verspielen. Es ist an uns, diese Menschen weiterhin zu unterstützen. Afghanistan war einst ein friedliches und lebenswertes Land, das mit Deutschland freundschaftliche Beziehungen pflegte. Bis heute erinnern sich viele Afghanen an diese Jahre. Wir sollten es auch tun.