SPD

250.000 Tote später - Endlich kommt Bewegung in die Syrienfrage

04.12.2015

In meiner neuen Kolumne für das IPG-Journal, die am 24. November erschienen ist, habe ich die neuesten Entwicklungen im Syrienkonflikt und die Rolle Russlands hierin, sowie die Ergebnisse der beiden Wiener Syrien-Konferenzen und den Effekt, den die Pariser Anschläge auf diese hatten. Auch wenn die Gefahr einer erneuten Eskalation nicht gänzlich gebannt ist und wir noch weit von einer tragfähigen politischen Lösung entfernt sind, geben die Ergebnisse von Wien Anlass für vorsichtigen Optimismus.

Mit den beiden Wiener Syrien-Konferenzen vom 30. Oktober und 14. November zeichnen zum ersten Mal nach fast fünf Jahren Konturen für einen politische Vereinbarung ab. Die Konferenzen geben Anlass zur Hoffnung, auch wenn wir noch weit von einer stabilen, politischen Lösung entfernt sind. Dass man sich in Wien überhaupt auf einen gemeinsamen Fahrplan verständigen konnte, wäre vor einigen Wochen noch undenkbar erschienen. Die dramatische Zuspitzung der letzten Wochen haben sicher dazu beigetragen, in Wien ein gewisses Momentum zu erzeugen. Ein wichtiger Faktor hierfür war – auch wenn es angesichts der zusätzlichen Todesopfer zynisch klingen mag – das russische Eingreifen in Syrien sowie die schrecklichen Terroranschläge von Paris, die Frankreich und Russland veranlasst haben, ihre militärischen Aktivitäten miteinander abzustimmen. Ein Scheitern der Wiener Gespräche nur einen Tag nach den verheerenden Anschlägen wollte niemand verantworten.

Auf der zweiten Wiener Konferenz hat sich die International Syria Support Group (ISSG) auf eine Reihe konkret formulierter Ziele geeinigt. Vorrangig sind hierbei die Implementierung einer Waffenruhe und die gleichzeitige Einleitung eines politischen Prozesses. Der Waffenstillstand soll unmittelbar nach den ersten politischen Schritten einsetzen. Alle Konferenz-Teilnehmer verpflichten sich, die Waffenruhe zu unterstützen. Hierzu gehört der Aufbau einer UN-Monitoring Mission mit entsprechender Unterstützung aus dem Sicherheitsrat.

Der gleichzeitig einsetzende politische Prozess soll auf Basis von Genf I (2012) zur Bildung einer Übergangsregierung binnen 6 Monaten und zur Einigung auf Wahlen sowie auf eine neue Verfassung innerhalb von 18 Monaten führen. Formelle Gespräche hierzu beginnen bereits Anfang des kommenden Jahres. Zudem verpflichten sich die ISSG-Staaten dazu, die Umsetzung der bisherigen UN-Resolutionen zu Humanitärer Hilfe und zum Einstellen von Kriegshandlungen und Menschenrechtsverletzungen in Syrien voranzubringen. Des Weiteren soll Jordanien eine Arbeitsgruppe leiten, die eine gemeinsame Definition von terroristischen Organisationen in Syrien erarbeiten und damit vorbestimmen soll, welche Gruppen bekämpft und welche am politischen Prozess beteiligt werden sollen.

Dass dieser Fahrplan ehrgeizig ist und angesichts der syrischen Realität schwer umzusetzen sein wird, ist wohl allen Beteiligten klar. Nichtsdestotrotz zeigen die Ergebnisse, dass eine neue Dynamik eingesetzt hat, die die Teilnehmer erstmals vorsichtig optimistisch stimmt. Das es dazu kommen konnte, liegt an mehreren Faktoren. Erstens: An der Tatsache, dass zum ersten Mal seit Beginn des Syrienkonflikts alle entscheidenden Akteure an einem Tisch saßen. Noch vor wenigen Monaten wäre ein Format unter Beteiligung Russlands, des Iran, Saudi-Arabiens und der USA undenkbar gewesen, auch weil die USA vor dem Iran-Deal eine Beteiligung Teherans abgelehnt hatten. Zweitens setzt die Flüchtlingskrise zudem europäische Staaten stärker unter Druck, sich stärker für ein Ende des Krieges in Syrien einzusetzen – und dafür gegebenenfalls auch die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen.

Wie an der veränderten Haltung Frankreichs zu Assad ablesbar ist, haben die Terroranschläge von Paris auf die Syrien-Politik bereits einen unmittelbaren Einfluss ausgeübt. Denn seitdem rückt die Notwendigkeit, den sogenannten Islamischen Staat (IS) noch stärker als bislang zu bekämpfen, wieder stärker in den Vordergrund. Frankreich hat infolge der Terroranschläge seine bisherigen Luftangriffe auf den IS stark ausgeweitet. Darüber hinaus bemüht Frankreich sich um ein international stärker abgestimmtes Vorgehen gegen den IS unter Einschluss Russlands. Dies kommt einem Strategiewechsel gleich, da Frankreich bislang dem russischen Engagement in der Region sehr skeptisch gegenüberstand und sich gegenüber Assad unversöhnlich zeigte.

Die russische Entscheidung an der Seite von Damaskus in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen, hatte schon vor den Anschlägen für eine neue Dynamik gesorgt. Putin hat sich in eine zentrale Rolle hineinmanövriert, in dem er etwa durch die Stationierung von Kampfflugzeugen die USA zu einem „deconfliction-Arrangement“ gezwungen und durch die Stationierung von Luftabwehrraketen die türkischen Pläne für einen Sicherheitszone vorerst zunichte gemacht hat. Russland ist damit wieder zu einem zentralen Akteur im geworden. Dabei exponiert es sich aber selber, wie der Bombenanschlag auf das russische Passagierflugzeug am 31. Oktober mit 224 Toten gezeigt hat.

Allerdings ist es mit der Ankündigung den IS bekämpfen zu wollen nicht allzu weit her, da Russland doch bisher weit überwiegend Stellungen anderer, auch moderater Oppositionsgruppen, bombardiert. So gesehen dienen diese Luftschläge in erster Linie der Stabilisierung des Assad-Regimes und sollen den weiteren Zerfall des syrischen Reststaates verhindern. Unglücklicherweise setzen sie dabei vor allem die moderate Opposition unter Druck, die sich genötigt sieht noch stärker mit radikal-islamistischen Gruppen zusammenarbeiten und sich damit politisch im Westen angreifbar macht.

Dass Russland berechtigte Interessen in Syrien hat, sollte der Westen gleichwohl zur Kenntnis nehmen und nicht negieren. Dazu gehört die Sorge um ein Übergreifen des islamistischen Terrors auf seine südlichen Provinzen und die Zukunft der russischen Militärstützpunkte in Syrien. Diese sind die für Russland von großer geostrategischer Bedeutung, da der russische Stützpunkt in Tartus den einzigen direkten Zugang Russlands zum Mittelmeer sicherstellt. Ein kompletter Zusammenbruch der staatlichen Ordnung wie in Libyen ist ein Szenario, das in Moskau aus mehreren Gründen Alpträume verursachen dürfte.

Durch sein Eingreifen hat sich Putin trotz der Isolation durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim einstweilen wieder als Gesprächspartner etabliert. Dies scheint man mittlerweile auch in Washington akzeptiert zu haben. Jedenfalls wurde die Klassifizierung Russlands als „Regionalmacht“ nicht mehr wiederholt, mit der Präsident Obama zu Beginn der Krim-Annexion Russland zu demütigen versuchte. Im Gegenteil: nach anfänglichem Zögern stimmte Präsident Obama einem persönlichen Treffen der beiden am Rande der UN Generalversammlung zu. Der Prestigegewinn für Putin hat zwar Obamas innenpolitische Kritiker auf den Plan gerufen, aber dennoch eine konstruktive Dynamik ausgelöst. Treffen der Außenminister und eine weitere Begegnung zwischen Obama und Putin am Rande des G20-Gipfels folgten.

Wichtiger noch: im direkten Zusammenspiel gelang es den Außenministern Kerry und Lawrow
auf den beiden Wiener Konferenzen zu Syrien, die "Spoiler" zu marginalisieren, damit legten sie die Grundlage für den überraschend konstruktiven Verlauf der Gespräche. Eine Lösung des Konfliktes ist damit gleichwohl noch keinesfalls in greifbare Nähe gerückt.

Es scheint so, als richte Russland sich auf eine längere Präsenz in Syrien ein, wie die Verlegung von Unterstützungseinheiten nach Syrien und der Ausbau der Stützpunkte vermuten lassen. Ob Russland am Ende bereit sein wird, seinen Einfluss auf Damaskus konstruktiv einzusetzen und Assad in einem noch zu vereinbarenden Verfahren aus dem Spiel zu nehmen, ist zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar.

Konstatieren lässt sich aber, dass sich die von Außenminister Steinmeier bereits vor den dann gescheiterten Vermittlungsversuchen in Genf vertretene Ansicht bestätigt hat, dass es ohne eine Einbeziehung aller Akteure keine politische Lösung geben wird. Ebenso wichtig ist daher die Teilnahme des Irans an den Gesprächen.

Aber auch innerhalb der westlichen Teilnehmer gibt es dringenden politischen Klärungsbedarf. Denn eine politische Verständigung zum Syrienkonflikt ist den vergangenen fünf Jahren auch an der widersprüchlichen Politik der Golfstaaten und der Türkei gescheitert. Bis heute gehen sie nicht entschlossen gegen die Unterstützung islamistischer Terroristen aus ihren Ländern vor, beziehungsweise decken oder befördern diese gar. Bei aller Zufriedenheit mit dem Ergebnis darf man nicht vergessen, dass die Gefahr einer erneuten Eskalation keinesfalls gebannt ist.

Insbesondere unter dem Eindruck der Attentate von Paris scheint eine Verständigung auf
eine gemeinsame Strategie gegen den IS heute zumindest eine realistische Option zu sein. Die Koalition der Anti-IS-Koalitionen, wie es der libanesische Außenminister Gebran Basil ausdrückte, ist in greifbare Nähe gerückt. Allein, ohne eine Verständigung auf eine Zukunft ohne Assad und einen inklusiven politischen Prozess in Syrien unter Einschluss möglichst vieler Gruppen der Opposition wird eine solche Vereinbarung den Krieg nicht beenden. Denn so schockierend die hemmungslos eingesetzte und inszenierte Gewalt des IS auch sein mag, es bleibt eine traurige Tatsache, dass Assad für den bei weitem größten Teil der über 250.000 Toten die Verantwortung trägt. Dies zu ignorieren würde den Krieg im Ergebnis nur verlängern und die Zahl der Flüchtlinge weiter ansteigen lassen.