SPD

Nur mit der Türkei kann Europa die Flüchtlingskrise bewältigen

07.03.2016

Mein Beitrag für die neue Tagesspiegel-Debattenplattform "Causa":

„With or without you“ - verfolgt man die aktuelle Debatte in Deutschland über die Türkei, könnte man manchmal den Eindruck bekommen, es gäbe nur diese beiden Alternativen. Doch dies wäre ein fataler Trugschluss.

Dass die Türkei in den letzten Monaten kein leichter Partner war, steht außer Frage. Die Hoffnung, dass der Kurdenkonflikt auf eine friedliche Lösung zusteuert, erlitt einen herben Rückschlag. Präsident Erdoğan trägt daran einen maßgeblichen Anteil. Selbstverständlich hat die türkische Regierung das legitime Recht, gegen terroristische Aktivitäten vorzugehen, sei es von der PKK oder anderen Gruppierungen ausgehend. Aber die Türkei steht auch in der Pflicht, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren – und dies hat sie, wie die schockierenden Bilder etwa aus Cizre belegen, in zahlreichen Fällen nicht getan.

Die hochgefährliche Eskalation im Streit mit Russland wurde auch von türkischer Seite befeuert. Und die Angriffe auf kurdische PYD/YPG-Stellungen in Syrien tragen weder zu einer Lösung des Syrien-Konflikts noch zum Kampf gegen den „Islamischen Staat“ bei. Die Türkei hat sich mit ihrem Vorgehen vielmehr zu einem problematischen Spieler mit Blick auf Syrien entwickelt. Hinzu kommt ein repressiver Umgang mit Journalisten und Regierungskritikern im Inneren, der eines ernsthaften EU-Aspiranten nicht würdig ist.
Doch gerade angesichts dieser Politik müssen wir den intensiven Austausch mit der Türkei weiter führen. Diejenigen in Deutschland, die sich darauf beschränken, Präsident Erdoğan zu kritisieren und der EU den Ausverkauf ihrer Werte vorwerfen, machen es sich zu leicht. Durch eine enge Zusammenarbeit und die Aufrechterhaltung einer ernsthaften Beitrittsperspektive in die EU sind die Einwirkungsmöglichkeiten auf Ankara deutlich größer, als wenn Europa die Türkei weiter auf Armlänge von sich fernhielte, wie dies noch bis vor wenigen Monaten die Politik der Bundeskanzlerin war. Heute zahlen wir für Merkels Fehleinschätzung einen hohen Preis.

Zudem gibt es in der deutschen Diskussion die Tendenz, die enormen Leistungen der Türkei zu übersehen. Mehr als 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge haben seit 2011 Zuflucht in der Türkei gefunden. Der türkische Staat hat Milliarden für die Unterbringung und die Versorgung der Flüchtlinge ausgegeben. Die Terroranschläge seit Sommer letzten Jahres in Ankara, Istanbul und im Südosten der Türkei haben weit über 150 Menschen das Leben gekostet.

Diese Tatsachen dürfen natürlich nicht als Entschuldigung dienen, die Defizite nicht beim Namen zu nennen. Sie sind aber für das Verständnis der türkischen Seite zentral. Ebenso darf nicht ignoriert werden, dass es auch innerhalb der türkischen Gesellschaft nach Jahren der offenen Grenzen und der Gastfreundschaft zunehmenden Widerstand gegen die weitere Aufnahme von Flüchtlingen gibt.
Eine ehrliche Partnerschaft schließt das klare Ansprechen von Missständen ein. Und ein enger Dialog mit der Türkei muss auch den Kontakt mit den kritischen Stimmen der Opposition und der Zivilgesellschaft umfassen. Es darf erst gar nicht der Eindruck entstehen, dass auf dem Altar einer Kooperation in der Flüchtlingskrise unsere Ansprüche an eine demokratische und rechtsstaatliche Politik gesenkt werden und wir die kritische türkische Zivilgesellschaft fallen lassen.

Die Türkei und die EU brauchen einander. Wenn das Land weiter eng in die atlantischen Strukturen eingebunden bleiben soll, wird sich die türkische Politik verändern müssen. Diese klare Botschaft müssen die EU und die USA gemeinsam an Ankara senden. Denn eines ist klar, nur eine demokratische Türkei kann auf Dauer ein verlässlicher Partner sein. Bezogen auf den Konflikt mit Russland muss die Botschaft lauten: Deutschland und die NATO stehen zu ihren Bündnisverpflichtungen. Eine Instrumentalisierung der NATO durch die Türkei werden wir jedoch nicht akzeptieren.

Statt die mangelnde Solidarität in der EU in der Flüchtlingsfrage zu beklagen und Überlegungen zur Schließung unserer nationalen Grenzen anzustellen, sollten wir daran arbeiten, zu einem gemeinsamen, europäisch-türkischen Vorgehen zu kommen. Ein Blick auf die Landkarte hilft: Die Türkei ist ein Schlüsselland zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Nur mit ihr können wir die Herausforderungen meistern, wenn wir dem eigenen Anspruch gerecht werden möchten, ein offenes und humanes Europa zu bewahren. Eine Abstimmung innerhalb der EU und mit der Türkei benötigt natürlich mehr Zeit als das Hochziehen nationaler Schlagbäume - ist aber nachhaltiger. Der anstehende EU-Türkei Gipfel am 7. März bietet Gelegenheit, konkrete Fortschritte zu erzielen.

Die Stichworte sind bekannt. Es geht darum, den im Herbst 2015 beschlossenen Aktionsplan zur Reduzierung der Fluchtbewegungen umzusetzen: Sicherung der See- und Landgrenzen zwischen der EU und der Türkei, Rücknahmeabkommen, eine Bekämpfung der Schleuserkriminalität und verbesserte Integrationschancen für Flüchtlinge (Schulen, Arbeitsmarkt) in der Türkei. Im Gegenzug stellt die EU finanzielle Hilfen zur Verfügung und eine Visaliberalisierung in Aussicht. Darüber hinaus sollte Europa die Übernahme großer Kontingente diskutieren, mittels derer Flüchtende legal und sicher aus der Türkei nach Deutschland und Europa einreisen könnten und die die Türkei entlasten würde.

Diese Maßnahmen sind nur Elemente einer erfolgreichen Flüchtlingspolitik und ersetzen nicht die Arbeit an den Fluchtursachen, insbesondere die Bemühungen um eine politische Lösung des Syrien-Konflikts. Es sind aber wichtige Bausteine, um eine politische Steuerung der Flüchtlingsbewegungen zurück zu gewinnen.

Zusatz:
Eine aktuellere Version dieses Textes ist am 31. März in der Sonntagsausgabe des Tagesspiegel erschienen. Sie finden ihn auch unter: https://causa.tagesspiegel.de/die-turkei-und-die-eu-brauchen-einander.html