"Als ich Anfang der 90iger Jahre angefangen habe, in der Politik aktiv zu werden, war die nukleare Abschreckung ein Relikt des Kalten Krieges. Die dahinterliegenden Konzepte – Stichwort MAD-Doktrin (mutually assured destruction) – hatten unsere Gesellschaft tief gespalten und gehörten zu der alten bipolaren Welt, die nun überwindbar schien. Das spieltheoretische Gleichgewicht des Schreckens wurde von einem gemeinsamen Fokus auf Abrüstungsinitiativen abgelöst. Die beiden großen Nuklearmächte hatten erstes gegenseitiges Vertrauen geschaffen.
Meilenstein war hier der Abschluss des INF-Vertrages im Jahr 1987. Damals, meine Damen und Herren, war das eine kleine Sensation. Die beiden Antagonisten des Kalten Krieges hatten über sieben Jahre an einem Vertragstext gearbeitet. Bei der Unterzeichnung standen Generalsekretär Gorbatschow und Präsident Reagan nebeneinander, sichtlich stolz und mit dem Gefühl, historisch etwas Bedeutsames geschaffen zu haben. Zum ersten Mal hatte man sich nicht nur auf die Vernichtung einer ganzen Waffenkategorie geeinigt, sondern auch auf wirksame Kontrollmechanismen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sowohl Russland als auch die USA tiefe Einschnitte in ihre Nukleardispositive vorgenommen und große Bestände vernichtet. Auch Deutschland hat dabei eine Rolle gespielt und die Entsorgung von russischen Atom-U-Booten und nuklearen Abfällen mit erheblichen Mitteln finanziell unterstützt. Wir alle wähnten uns hinter der zynischen Logik nuklearer Drohkulissen.
Meine Damen und Herren,
heute müssen wir uns fragen: Was ist passiert? Warum erleben wir nun, dass Nuklearfragen allgemein und mit ihnen auch das Konzept der nuklearen Abschreckung an neuer Bedeutung gewinnen? Das sicherheitspolitische Umfeld – das ist die Realität – hat sich seit der Jahrtausendwende deutlich verschlechtert. Natürlich ist es ganz besonders die Konfrontation mit Russland und ihre Weiterungen im nuklearen Bereich, die uns in Europa Sorgen bereiten muss. Nicht nur hat Russland in der Ukraine gezeigt, dass es zur Durchsetzung der eigenen Interessen bereit ist, Völkerrecht zu brechen und militärische Mittel einzusetzen. Russland macht außerdem keinen Hehl daraus, dass es aufrüstet – nuklear, konventionell und zunehmend auch im Cyberbereich. Mit der Missachtung des Budapester Memorandums wurde zudem auch eine glasklare Sicherheitsgarantie entwertet, die Nuklearwaffenstaaten wie die Ukraine 1994 im Austausch für den Verzicht auf eigene Nuklearwaffen gegeben haben. Die Auswirkung dieser russischen Aggression auf die Validität künftiger Vereinbarungen von positiven Sicherheitsgarantien lässt sich heute noch nicht absehen.
Dazu kommt das Ende des INF-Vertrages – auch das ein Grund zur Sorge. Mit dem Bruch des INF-Vertrags durch Herstellung und Einführung eines neuen nuklearfähigen bodengestützten Mittelstrecken-marschflugkörpers hat Russland nicht nur das Ende eines zentralen Rüstungskontrollregimes verursacht, sondern fordert auch die europäische Sicherheit heraus.
Meine Damen und Herren,
Vertrauen in den Wert von Vereinbarungen – das ist Grundlage für jedwedes Ringen um politische Lösungen. Das gilt auch mit Blick auf unsere transatlantische Freundschaft. Die Nuklearvereinbarung mit Iran ist nicht nur das Ergebnis jahrelanger harter diplomatischer Arbeit. Sie schafft auch – ganz ohne Frage – mehr Sicherheit in der Region, mehr Sicherheit in Europa. Sie ist, bei aller Unvollkommenheit und Fragilität, ein Erfolg engagierter Multilateralisten, der das System der nuklearen Nichtverbreitung stärkt. Das sehen fast alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft so. Deshalb war Präsident Trumps Aufkündigung des JCPoA nicht nur ein Rückschlag für all diejenigen, die um eine feinkalibrierten Lösung in einer der zähesten Proliferationskrisen bemüht sind. Sie schwächt auch das Vertrauen in die Zusagen der Mächtigeren und bestätigt all diejenigen Staaten, die der Idee von kooperativer Sicherheit ohnehin misstrauen.
Meine Damen und Herren,
Hierbei geht es auch um Entwicklungen, die über die traditionellen Konfliktlinien hinausgehen, geografisch zunächst weiter weg scheinen und dennoch unsere Sicherheit in Europa berühren:
Nordkorea
Nordkorea hält uns weiter in Atem. Als Kim Jong Un 2011 seinen Vater beerbte, haben fast alle Experten Nordkorea weit davon entfernt gesehen, Nuklearwaffen und Trägertechnik zu beherrschen. Aber kaum ein Experte hat die Entschlossenheit vorhergesehen, mit der Kim sein Atom- und Raketenprogramm vorantreiben sollte: Vier am Ende erfolgreiche Atomtests und mehr als 120 Raketentests – zuletzt mit interkontinentaler Reichweite – folgten. Sie wurden begleitet, aber nie unterbunden, von einem sich stetig verstärkenden, aber bis heute immer wieder unterlaufenen Sanktionsregime.
Die Volatilität dieser Krise muss uns weiterhin alarmieren. Die Bilder des historischen Handschlags zwischen Präsident Trump und Kim Jong Un gingen natürlich um die Welt. Und selbstverständlich wäre eine innerkoreanische Annäherung ein hochwillkommenes Zeichen. Wem, wenn nicht uns Deutschen – zumal in diesem Jubiläumsjahr – gingen die Hoffnungen einer geteilten Nation nahe?
Es muss aber doch klar sein: Ohne vollständige, verifizierbare und unumkehrbare Aufgabe des nordkoreanischen Atomwaffenprogrammes wird es keinen nachhaltigen Frieden und keine Stabilität in der Region geben. Dafür braucht es substantielle überprüfbare – nicht nur symbolische – Schritte auf nordkoreanischer Seite.
China
Der Aufstieg Chinas hat die Gleichung strategischer Stabilität ohnehin komplizierter werden lassen. Dabei sind es zwar weniger Chinas Atomwaffen, die Unbehagen hervorrufen. Mit der klaren Bekenntnis zu No-First-Use sieht sich China als ein besonders verantwortungsvoller Nuklearwaffenstaat. Sorge bereitet aber vor allem der Ausbau neuer Technologien und strategischer Fähigkeiten.
Die technologischen Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Mechanik nuklearer Abschreckung werden engagierte Multilateralisten in den kommenden Jahren vor große Aufgaben stellen. Denn die nukleare und die konventionelle Domäne zeigen immer häufiger technologische und doktrinäre Berührungspunkte. Durch diese Verschränkungen können Szenarien und Risiken entstehen, die auch die vermeintlichen Gewissheiten der nuklearen Abschreckung in Frage stellen werden.
Meine Damen und Herren,
gerade weil die Welt nicht mehr bipolar, sondern multipolar ist, gerade weil es nicht mehr nur um die russisch-amerikanische Auseinandersetzung sondern um viel komplexere geopolitische Fragen geht, scheint die nukleare Abschreckung ihre Renaissance zu erleben. Dahinter stehen – das hat sich nicht geändert – Überlegungen zur strategischen Stabilität.
Für die NATO war und ist der Einsatz von Nuklearwaffen ein extrem fernliegendes Szenario, seine Vermeidung Kerngedanke nuklearer Abschreckung. Und angesichts des politischen Rechtsrucks in Europa und den USA müssen wir dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Gleichzeitig jedoch bleibt die nukleare Abschreckung aufgrund ihrer stabilisierenden Wirkung weiterhin Teil des strategischen Konzepts der Allianz.
Es ist auch kein Widerspruch, die stabilisierende Wirkung anzuerkennen, gleichzeitig aber klar und deutlich zu sagen: Wir Menschen dürfen nicht akzeptieren, auf Dauer mit dieser apokalyptischen Möglichkeit zu leben. Global Zero, das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt, ist aus meiner Sicht nicht nur ein moralischer, sondern auch ein ganz realpolitischer Imperativ. Und die Bundesregierung hält ohne Wenn und Aber, ohne jede Relativierung an diesem Ziel fest.
Meine Damen und Herren,
zu einem realpolitischen Ansatz gehört allerdings auch die Einsicht, dass wir konkrete Fortschritte nur im Dialog mit den Nuklearwaffenstaaten erzielen können. Bundesaußenminister Maas hat daher zum ersten Mal seit vielen Jahren das Thema der nuklearen Abrüstung wieder auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats gehoben, und wir setzen uns gemeinsam mit unseren Partnern gegenüber den Nuklearwaffenstaaten dafür ein, ihrer Verpflichtung zu nuklearer Abrüstung nachzukommen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, dem Fundament der nuklearen Ordnung. Die zwei mit Abstand größten Nuklearmächte USA und Russland tragen hierfür eine besondere Verantwortung.
Die offene Frage der Verlängerung des New START-Vertrages wird ein Lackmustest dieser Verantwortung sein. Er hat die nuklearen Arsenale der USA und Russlands sukzessive reduziert und Sicherheit und Stabilität im globalen Gefüge gestärkt. Wir werden deshalb nicht müde werden, Russland und den USA ihre Führungsrolle in der nuklearen Abrüstung vor Augen zu halten – im Einklang mit vielen anderen europäischen und außereuropäischen Partnern.
Gleichzeitig muss es darum gehen, die Bedeutung von Nuklearwaffen im sicherheitspolitischen Denken zu verringern und Eskalationsrisiken zu minimieren. Das erfordert ganz konkrete Schritte: Maximale Transparenz in den nuklearen Arsenalen, verantwortungsvolle, restriktive Doktrinen und einen erneuerten Dialog zwischen den Nuklearwaffenstaaten – allen voran den USA, Russland, China –, um Fehlwahrnehmungen abzubauen und die Basis für neue rüstungskontrollpolitische Ansätze zu schaffen.
Diese Ansätze sind vor allem deshalb notwendig, um der Dynamik entgegenwirken, die sich aus der technologischen Entwicklung neuer Waffensysteme und ihrem Zusammenwirken mit Nuklearwaffen ergeben kann. Auch hierzu hat Bundesminister Maas mit seiner internationalen Rüstungskontrollkonferenz „Rethinking Arms Control“ im Frühjahr dieses Jahres einen Anstoß gegeben.
Unsere regelbasierte Rüstungskontrolle muss sich auch inhaltlich weiterentwickeln, um mit neuen Technologien mitzuhalten. Der technologische Fortschritt der letzten Jahre hat Innovationen ermöglicht, die aus einem Science Fiction Roman stammen könnten. Hier geht es zum Beispiel um unbemannte Drohnen oder Weltraumwaffen, die sich mit fünffacher Schallgeschwindigkeit fortbewegen und jegliche menschliche Reaktion unmöglich machen.
Diese Entwicklungen – ähnlich wie das anachronistisch wirkende Konzept der nuklearen Abschreckung – stellen uns vor neue Herausforderungen. Mit diesen Herausforderungen müssen wir uns politisch auseinandersetzen und uns fragen: Welche Regeln sollen gelten? Wo sind unsere – auch ethischen – roten Linien?
Meine Damen und Herren,
die Antworten auf diese Fragen werden wir nicht von heute auf morgen finden. Wir brauchen einen langen Atem und hartes diplomatisches Engagements. Dem werden wir uns widmen."