Sehr geehrter Comisionado Leyner Palacios,
sehr geehrte Frau Gesandte Yadir Salazar Mejía,
verehrtes Publikum,
heute blicken wir mit Kolumbien auf ein Ereignis von historischer Tragweite: Vor wenigen Tagen veröffentlichte die kolumbianische Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht über den jahrzehntelangen Gewaltkonflikt im Land. Ein Konflikt, der erst 2016 durch einen Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der ehemaligen Guerilla-Organisation FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo) beendet wurde.
Ich gratuliere der Kommission zur Fertigstellung des Berichts, der ein Meilenstein für die Wahrheitsfindung und Aufarbeitung darstellt. Dieser Bericht ist nötig, damit die kolumbianische Gesellschaft die Gewalt hinter sich lassen und zu einem friedlichen Zusammenleben finden kann. Denn um den Blick in die Zukunft richten zu können, müssen wir auch zurückblicken. Das Mandat der Wahrheitskommission endet im August dieses Jahres. Die eigentliche Arbeit beginnt aber erst mit der Umsetzung ihrer Empfehlungen! Gefordert sind alle Menschen in Kolumbien, nicht nur politisch Verantwortliche oder gesellschaftliche Institutionen. Die kolumbianische Gesellschaft als Ganzes muss sich die Erkenntnisse der Wahrheitskommission zu eigen machen. Auch wir als Außenstehende haben eine Verantwortung, dazu beizutragen. Wir, die Freundinnen und Freunde Kolumbiens in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt.
Die Wahrheitskommission hatte in den vergangenen 42 Monaten eine Herkulesaufgabe zu bewältigen. Sie hat die schreckliche Gewalt der vergangenen Jahrzehnte erforscht und dabei die Muster der Gewalt herausgearbeitet. Das geschah auf Grundlage tausender Zeugenaussagen, Berichten von Opferorganisationen sowie bereits publizierten und eigenen Forschungen. Die Ergebnisse sind nicht nur äußerst umfangreich, sondern auch im doppelten Sinne wegweisend. Wegweisend, weil die Arbeit der Wahrheitskommission neue Standards bei der Aufarbeitung der Vergangenheit setzt. Die Exilbevölkerung wurde gehört, Frauen gleichermaßen wie Männer, Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit und aus allen Landesteilen in einem regional sehr ungleichen Land. Die Opfer standen dabei durchweg im Mittelpunkt. Damit hat die Wahrheitskommission einen Maßstab für „Transitional Justice“ weltweit gesetzt.
Wegweisend auch, weil die Empfehlungen der Wahrheitskommission einen Kompass für die Zukunft geben. Der Bericht wurde im Kontext einer starken politischen Polarisierung vorgestellt, in einer Situation, die nüchterne Diskussionen nicht eben erleichtert. Bereits jetzt gibt es Kontroversen um den Bericht und seine Empfehlungen. Zweifellos wird die Diskussion auch in den kommenden Wochen, Monaten und vermutlich Jahren andauern. Und das ist auch gut so! Denn ein wirksamer Friedensprozess, der tief in die Strukturen des Zusammenlebens eingreift, ist ohne Diskussionen und Debatten nicht vorstellbar. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist schmerzhaft, aber unabdingbar. Die Arbeit der Wahrheitskommission war mit Herausforderungen konfrontiert, die vor ein paar Jahren noch nicht (gänzlich) vorhersehbar waren. Dies betrifft neben der deutlichen Zunahme der Gewalt in vielen Landesteilen insbesondere auch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit allen ihren Einschränkungen.
Dass trotzdem die Stimmen der Opfer eine so zentrale Rolle spielen, verdient wahrlich Applaus. Der Bericht greift ganz bewusst die unterschiedlichen Perspektiven auf die Ursachen und Folgen der Gewalt in Kolumbien auf und berücksichtigt vielfältige Stimmen. die der Opfer und lokaler Gemeinden, die der Täter, von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie etwa ehemalige Präsidenten und frühere Staatsminister, von Angehörigen des Militärs, Geschäftsleuten und vielen anderen.
Der Wahrheitskommission ist es dabei auch gelungen, neue Erkenntnisse zum strukturellen Rassismus und der besonders drastischen Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Frauen und LGBTIQ-Personen zutage zu fördern. Dies ist insbesondere auch ein Verdienst unseres heutigen Ehrengastes, des Comisionado Leyner Palacios, den ich nochmals ganz besonders willkommen heiße.
Die Wahrheitskommission ist derzeit in Kolumbien und international unterwegs, um die Ursachen und Folgen mit all dem menschlichen Leid des bewaffneten Konflikts bekannt zu machen. Zu erzählen, was im kolumbianischen Konflikt passiert ist, ist keine leichte Aufgabe. Ich bewundere daher den Mut der Wahrheitskommission sehr, ihren Bericht in der kolumbianischen Gesellschaft und weltweit zur Diskussion zu stellen, ihn überprüfen, analysieren und kommentieren zu lassen. Es ist mir deshalb eine Ehre, gemeinsam mit Ihnen heute in Deutschland Vertreterinnen und Vertreter der Kommission zu empfangen.
Das deutsche Entwicklungsministerium ist stolz darauf, dass wir den Weg der Wahrheitskommission in den letzten Jahren intensiv begleiten durften. Über die GIZ und das Instituto Colombo-Alemán para la Paz – CAPAZ – haben wir zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen gefördert und Opfer des Gewaltkonfliktes bei der Dokumentation ihrer Erfahrungen unterstützt. So stehen diese Erfahrungen der Wahrheitskommission und den Institutionen der kolumbianischen Übergangsjustiz, etwa der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, zur Verfügung.
Deutschland hat seine eigene Geschichte von Gewalt, Verletzungen der Menschenrechte und unfassbarem menschlichen Leid. Wir haben es damals versäumt, direkt nach dem Krieg eine Wahrheitskommission einzusetzen. Wir haben viel zu lange geschwiegen. Deutschland selbst musste die Folgen seiner Vergangenheit überwinden und tut dies immer noch – so viele Jahrzehnte nach den Ereignissen des sogenannten Dritten Reichs.
Auch mit Blick auf die Kolonialgeschichte hat die deutsche Gesellschaft ihre Vergangenheit noch nicht bewältigt. Dabei geht es um die Anerkennung individueller und kollektiver Verantwortung, um die Entschädigung der Opfer und darum, die Erinnerung an das Geschehene aufrechtzuerhalten. Es geht darum, zu vermeiden dass die Geschichte oder Muster hieraus sich wiederholen.
Aufgrund unserer eigenen Erfahrung ist es für Deutschland eine Priorität, die Bemühungen der kolumbianischen Bürgerinnen und Bürger um einen nachhaltigen Frieden weiterhin zu unterstützen und zu begleiten. Dabei geht es insbesondere darum, das Vermächtnis der Wahrheitskommission in den Schulen, Universitäten und – warum nicht – auch in den Unternehmen zu diskutieren und konkrete Folgerungen zu ziehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es vor allem die junge Generation ist, die den Frieden in Ihrem Land gestalten wird!
Deutschland wird Initiativen des friedlichen Zusammenlebens, der Erinnerung und auch die Institutionen der Übergangsjustiz in ihrer wichtigen Arbeit weiter unterstützen.Wir werden das Erbe der Wahrheitskommission und die Umsetzung der Empfehlungen wissenschaftlich und praktisch begleiten.
Die Geschichte, von der wir heute einen Ausschnitt kennenlernen, muss nun einen Dialog auf nationaler und internationaler Ebene in Gang setzen. Dabei wollen wir nicht in der Vergangenheit verweilen, sondern aus ihr lernen, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
Hier appelliere ich ausdrücklich an die neu gewählte Regierung von Gustavo Petro, das Vermächtnis der Wahrheitskommission aufzunehmen und der Arbeit der kolumbianischen Übergangsjustiz Priorität einzuräumen. Damit ein nachhaltiger Frieden in Kolumbien Realität werden kann.
Denn wie Wilhelm von Humboldt einmal sagte: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“